[Gastrezension] Scatterheart von Lili Wilkinson

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Grundinformationen
Autor? Lili Wilkinson
Wann erschienen? 2009
Original? Scatterheart
Reihe? -
Preis? 16,95€ (Hardcover)
Seitenanzahl? 450
ISBN? 978-3815795118
Verlag? Coppenrath

Mit meinen eigenen Worten
Hannah Cheshire ist beinahe im heiratsfähigen Alter, als ihr Vater, rein reicher, Londoner „Geschäftsmann“, 1814 überstürzt vor dem Galgen flieht und seine weltfremde, überbehütete Tochter skrupellos ihrem Schicksal überlässt. Nachdem alle Bediensteten sich aus dem Staub gemacht haben, Hannah die Speisekammer blank gegessen und den rettenden Heiratsantrag ihres einzigen Vertrauten aufgrund des Standesunterschiedes abgelehnt hat, bleibt Hannah nur noch der Gang zum Pflandleiher, der sich über Hannah ärgert und sie wegen eines angeblichen Juwelendiebstahls ins Gefängnis befördert. Nach einer missglückten Gerichtsverteidigung segelt das Mädchen aus gutem Hause auf einem Gefangenenschiff in Richtung New South Wales, um dort ihre siebenjährige Strafe abzuarbeiten. Bereits die Überfahrt ist hart: Dem unbarmherzigen Kampf um Essen, Alkohol, Sex und andere Privilegien ist Hannah alleine nicht gewachsen. Doch wer ist ihr Freund und wer ist ihr Feind? 

Das Urteil
Sehr geehrte Verleger, Sind Sie sicher, dass Sie die Druckfahnen des von Lili Wilkinsons Debütroman auch wirklich einer gründlichen Korrektur unterzogen haben, bevor Sie die endgültige Version an die Druckerei gegeben haben? Ich bin ziemlich davon überzeugt, dass der historische Jugendroman über ein naives High Society Girl, das im neunzehnten Jahrhundert für den Diebstahl ihres eigenen Schmuckes auf eine Gefangenenkolonie nach New South Wales verschifft wird, sollte eigentlich den Titel „Scatterbrain“ tragen, nicht „Scatterheart“. Natürlich ist Hannah Cheshire auch etwas flatterhaft, was ihre Fähigkeit sich zu verlieben, Liebe zu erkennen und Liebe zu geben betrifft, aber wer würde auch etwas Gegenteiliges erwarten: Hannah wuchs auf ohne eine Mutter, ohne Freunde oder Vertraute – außer ihrem Hauslehrer und ihrem kühl kalkulierenden, hochstapelnden Vater – an ihrer Seite zu haben, und ist noch nicht einmal fünfzehn, als ihr letzterer eine mehrtägige Geschäftsreise ankündigt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Ich hätte Ihrer nun einem Tippfehler zum Opfer gefallenen Idee völlig zugestimmt: Hannahs Dummheit, ihre Naivität und ihre Unfähigkeit, das was ihr widerfährt und gesagt wird zu verarbeiten, zu bewerten und als Maßstab für ihr zukünftiges Veralten anzulegen, verdient auf jeden Fall einen großen, fettgedruckten Einworttitel und „Scatterbrain“ klingt zweifelsohne sehr schmissig. Ich hätte allerdings „Peabrain“ bevorzugt, oder - noch besser – „Fleabrain“, um die Gefangenenschiffatmosphäre zu unterstreichen und diverse authentisch-historische Bilder vor Augen zu führen – wie es auch die Schreibweise des Buches selber tut.

Ich werde es nicht versäumen einige Worte zu dem lobenswert graphisch-visuellen Setting zu sagen. Zuerst ist es mir aber ein Bedürfnis meine extreme Abneigung gegen Hannah, ihre Mitstreiter und ihre Gegenspieler zu begründen.

Hannah ist wohlerzogen. Eine Dame aus gutem Haus. Sie versucht sogar die Hände ihrer Mitgefangenen in ihrer Londoner Gefängniszelle zu schütteln. Sie scheint sogar beste Lernvoraussetzungen zu haben, denn ihr Hauslehrer Thomas Behr genoss es außerordentlich, seine einzige Schülerin mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu überschütten, die ausdrücklich nicht im Lehrplan seines Brötchengebers aufgeführt waren. Trotzdem hat es Hannah geschafft fast fünfzehn Jahre lang inmitten den feinen Londoner Gesellschaft, in einem großen Haushalt reich an tratschsüchtigen Bediensteten, in einem Haus mit einer Tageszeitig auf dem Frühstückstisch heranzuwachsen ohne auch nur die winzigste Spur von Neugier hinsichtlich der Natur der Geschäftstätigkeit ihres Vaters, hinsichtlich seiner Pläne für ihre Zukunft oder auch hinsichtlich der Art und Weise in der ein High Society Haushalt geführt wird und Alltagsdinge erledigt werden, zu hegen. Wenn es zum Beispiel tatsächlich jemand wagt vorsichtig nach Details zur Tätigkeit ihres Vaters zu fragen, ist sie völlig zufrieden damit Pauschalantworten wie „Mein Vater ist ein Gentleman“ zu geben. Ein normal wissbegieriges Mädchen wäre peinlich berührt gewesen derart ahnungslos erwischt worden zu sein und hätte einige Anstrengung auf sich genommen, um diese persönliche Wissenslücke im Nachhinein zu schließen.
Hannah nicht. Hannah vertraut darauf, dass ihr Vater am besten weiß, was er tut und was für sie gut ist, und ihr das, was sie als Erwachsene wissen muss, zum genau richtigen Zeitpunkt mitteilen wird. Deshalb kommen aus Hannahs Mund weder Protest noch Nachfragen, als Thomas und andere Bedienstete ohne Vorankündigung entlassen werden. Und deshalb zieht Hannah auch keinerlei logische Schlüsse, als ihr Vater, der wiederholt betont hatte, dass er sie eines Tages an einen reichen, wohl geborenen Mann verheiraten werde, sie bittet, sich für ein Dinner mit einem seiner Businesspartner, der um die fünfzig, proportionslos und so langweilig ist, dass Hannah schon den kurzen Abend als absolute Zeitverschwendung betrachtet, besonders hübsch zurecht zu machen. Nachdem das gesamte ehemalige Personal dem Cheshire-Anwesen endgültig den Rücken gekehrt hat, hat die passiv abwartende Hannah nicht den blassesten Schimmer wo der Inhalt ihres Nachttopfes normalerweise hinkommt und hebt die sich vergrößernde Masse erst einmal tagelang in ihrem Zimmer auf. Ihre Vorstellung der Londoner Topographie ist so schwammig, dass sie auf dem Weg zum Pfandleiher die Orientierung verliert. Sie hat keine Ahnung von Fortpflanzung, sie weiß praktisch alles über die Konstellationen der Sterne und Planeten, hat aber noch nie etwas davon gehört, dass dieses Wissen von Bedeutung für die Seefahrt ist.
Für mich entstand kurzfristig sogar der Eindruck einer Zeitreiseheldin, als deutlich wurde, dass Hannah nicht weiß, dass in ihrer Zeit ein Junge, der eine Karriere bei der Marine oder in der kommerziellen Seefahrt anstrebt, normalerweise im Alter von neun oder zehn mit seiner Ausbildung beginnt. Ich war fassungslos, dass Hannah nach zwei Wochen in einer schimmelig-feuchten Zelle und vier Tagen Bewusstlosigkeit auf dem Gefangenenschiff immer noch étepetéte im Bezug auf das ihr angebotene Essen ist und freiwillig Mahlzeiten versäumt. Es machte mich wahnsinnig, dass sie es bei ihrer Gerichtsverhandlung nicht schafft zu erklären, dass die angeblich gestohlenen Ohrringe ihre eigenen waren – statt dessen stammelt sie etwas von Gnade und guter Herkunft –, und vor allem, dass sie niemals nach Einzelheiten fragt, wenn Long Meg, Tabby, Molly und andere Mitgefangene verdeckte Warnungen vor Hannahs neuem „Freund“, Lieutenant James, oder dem grausamen, von Syphilis gezeichnetem Schiffsarzt in ihre Richtung senden. Sie müsste doch bemerken, dass all die Frauen um sie herum – Prostituierte und Diebe – über wertvolle Lebenserfahrungen als Mitglieder der untersten Gesellschaftsschicht verfügen. Aber ihr kommt es niemals in den Sinn, sich von den hart gesottenen, lebenstüchtigen Frauen nützliche Ratschläge zu holen, die sie in ihrer befremdlichen Situation über Wasser halten würden. Ihrer unumstößlichen Meinung nach macht ihre privilegierte sie Geburt überlegen.

Apropos Warnungen. Irgendwie mochte ich die Prostituierte Long Meg und ihre wackelige Balance zwischen lebenserhaltender Selbstsucht und Einsatz für die Benachteiligten. Aber ich konnte ihre bedeutungsschwangeren, aber letztendlich nutzlosen Hinweise und ihr merkwürdiges, plötzliches Selbstzerstörungsverhalten an Bord des Schiffes nicht ertragen. Erstere dienten im Grunde genommen nur dazu den Leser hinsichtlich der mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretenden zukünftigen Gefahren, den sich Hannah naiv aussetzen wird, in Unwohlsein zu versetzen. Letzteres passte absolut nicht zu Megs zuvor beschriebener Persönlichkeit. Die vorlaute, direkte Meg, die ich aus dem Gefängnis kannte, hätte Hannah einfach beiseite nehmen und ihr mit ungeschönten Worten verdeutlichen können, was nachts auf dem Besatzungsdeck zwischen der Mannschaft und der menschlichen Fracht so vor sich ging. Sie hätte mit einem klaren Satz Hannahs Illusionen über ihren Gentleman in seiner angeblich weiß schimmernden Ritterrüstung zerschmettern können. Doch das macht sie nicht. Sie versprüht Rätsel und Bitterkeit und sie weiht Hannah noch nicht einmal in ihre Befürchtungen ein, bevor sie diese mitnimmt, um mit ihr gemeinsam die kleine Molly zu retten. Insgesamt ist Megs Verhalten ein drittklassiges Stilmittel, das eingesetzt wird, um Hannah tiefer und tiefer in ihr selbst gegrabenes Loch ihrer Armes-Reiches-Mädchen-Naivität sinken zu lassen. Ein Loch, aus dem sie später geläutert, geschliffen und gereift heraus kriechen wird – nehme ich an. Die andere Nebenfigur, die Hannah orakelhaft mit warnenden Metaphern und Sprichwörtern heimsucht, hat historisch gesehen eigentlich gar nichts auf dem Schiff zu suchen. Die Gefangenenschiffe, die die neu erschlossenen Gebiete in Australien ansteuerten, transportierten nur junge, vielleicht mittelalte, starke Frauen, die ihre lange Strafe abarbeiten und später Farmersbräute oder Bettwärmer werden sollten. In jemanden, der auf dem besten Weg war, an Altersschwäche zu sterben, hätte man die Kosten der Überfahrt keinesfalls investiert. 

Der potentieller Empfänger von Hannahs romantischen Interesse an Bord des Schiffes ist von Beginn der Reise an dermaßen offensichtlich zweigesichtig - er setzt sich auf seinen Mantel und weist ihr einen Platz in einer Pfütze zu - , dass es kein Vergnügen darstellen konnte, die jeweiligen Annäherungsszenen zu konsumieren. Man wartet nur nervös darauf, dass Hannah Schuppen von den Augen fallen. 

Ich nehme an, dass der Hauptteil von Scatterheart als dunkle, realistisch hoffnungslose Erzählung gedacht ist. Bestimmt hat Lili Wilkinson das Leben auf den Londoner Straßen des neunzehnten Jahrhunderts, das Leben in den überfüllten Londoner Gefängnissen und das Leben auf den Gefangenenschiffen gründlich recherchiert. Denn Scatterheart ist randvoll mit Ekel erregenden Gerüchen – Erbrochenes, Urin, Kot, Schweiß, verwesendes Menstruationsblut, eiternde, schwelende Wunden, faulende Zähne -, visuellen Eindrücken – das modernde Schiff, die dreckige Zelle, Würmer im Wasser, Blut in allen Formen, die raue, verschmutze Kleidung, schamlos hochgezogene Röcke, mutilierte Leichen -, und Geräusche – Schreie, Stöhnen, Höhnen, Schläge und Gelächter. Die Geschichte ist angereichert mit einem dicken Batzen kreativen Fluchens und einer beachtlichen Menge an rohem Sex und Gewalt. Und obwohl ich das authentische Sittengemälde bewundere, muss ich sagen, dass mir der in den Achtzigern geschriebene Jugendroman „Abby Lynn – Verbannt ans Ende der Welt“ von Rainer M. Schröder wesentlich besser gefallen hat. „Abby Lynn“ erzählt ebenfalls die Geschichte eines unschuldigen, jungen Mädchens, das des Diebstahls angeklagt und zu einer Strafkolonie verschifft wird. Die Heldin befreundet sich ebenfalls mit einer etwas reiferen Frau, die sich während der Überfahrt um sie kümmert. Und die traurigen Fakten – das Austausch von Essen gegen sexuelle Leistungen, die Unterernährung und der Einkauf jugendlicher, weiblicher Körper zum eigenen Vergnügen von Großgrundbesitzern unter dem Vorwand ein Hausmädchen zu benötigen – werden ebenfalls nicht verschwiegen. Aber der Leser bekommt trotz der historischen Belehrung eine Geschichte über Freundschaft und Zusammenhalt in unerwarteten Ecken erzählt, eine Geschichte voller Hoffnung, zweiten Chancen und voller Romantik. Serviert werden ganz normale Leute, die ganz normal ihre Meinung sagen anstatt Rätsel von sich zu geben. Für die Leser, die „Abby Lynn“ zu positiv oder zu kindisch empfinden, könnten vielleicht Gefallen an Scatterheart bekommen. Ich gehöre – wie gesagt – nicht zu dieser Art Leser. Deshalb habe ich nach einer bestimmten Szene, die den letzten Funken Interesse in mir erlöschen ließ, auf Seite 216 den Schlussstrich gezogen und Scatterheart mit Dank an „Herzensbücher“ zurückgeschickt. 

Es gibt Kenner australischer Jugendliteratur, die behaupten, dass Scatterheart ein halb durchgebackener Roman ist, in dem eine begabte Debütautorin die Kinderkrankheiten ihrer Autorenkarriere auskuriert. Vielleicht haben sie Recht. Da ich aber auch die kontemporäre Mord-Mystery-Geschichte „A Pocketful of Eyes“ von Lili Wilkinson gelesen habe und nur mäßig von den enthaltenen Charakteren beeindruckt war, kann ich auf jeden Fall behaupten: Anderen mag es anders gehen, aber Lili Wilkinson und ich sind einfach nicht kompatibel.

Ein böses Wort muss ich noch zur deutschen Hardcoverausgabe loswerden: Was in aller Welt ist der Sinn der Verteilung des Textes von ursprünglichen 377 Seiten der australischen Ausgabe auf 450 schwergewichtige Papierseiten mit einem endlosen, unbedruckten Rand rundherum? Das Buch ist unnötig schwer und wuchtig, umständlich zu halten und unmöglich mitzunehmen, unverhältnismäßig teuer und generell eine Verschwendung von Holz und Regalplatz. Ich hätte mir niemals diese Ausgabe selbst gekauft. Ich habe sie ausgeliehen und mir bei der Rücksendung Sorgen gemacht, dass das Gewicht überhaupt den Vorgaben für Büchersendungen der Deutschen Post entspricht.



(c) Oliviabooks (danke, für die tolle Rezension!)

4 Kommentare:

  1. Oh, was für eine harte Rezension ^^ Aber sehr ausführlich und schön zu lesen. Das Buch steht schon lange auf meinem Wunschzettel und spätestens jetzt frage ich mich: warum eigentlich? Bis jetzt habe ich allerhöchstens mal eine "so lala"-Rezension davon gesehen und meistens doch eher richtiggehende Verrisse. Sollte ich mir also noch mal überlegen, ob es das Wert ist. Oder mir die englische Ausgabe kaufen - die ja scheinbar dünner und deutlich günstiger ist ;)
    Lg, Sarah

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    1. Ich würde es auch eher mit der englischen Version probieren, mit dem deutschen Buch kann man einen echt erschlagen!

      Die liebe Oliviabooks hat mir das Buch zurückgeschickt und ich werds wahrscheinlich auch nicht lesen. Hat für mich nach der Rezension einfach an Reiz verloren. Wenn du willst, können wir es aber auch tauschen :3 :)

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  2. Ich hab zunächst nicht gesehen, dass es eine Gastrezension ist, und war doch sehr über deinen plötzlichen Stilwandel überrascht. xD
    Aber eine schöne Rezension, auch wenn ich ihr nicht zustimmen kann. :) Ich habe das Buch sehr genossen und hatte eher stilistisch etwas zu bemängeln. Hannah fand ich zwar auch sehr naiv und dumm, allerdings auf eine nachvollziehbare Art und Weise.

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    1. :D

      Was für eine Punktzahl hast du dem Buch gegeben? Ich hab bisher nur mega Verisse gelesen, kaum eine gute Rezension.

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